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Rettungsdienst: Reanimation am Telefon
Leben retten, ferngesteuert
Wiederbelebung ist Handarbeit
Warten, bis der Arzt kommt, das war gestern. Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass die Überlebensrate von Patienten signifikant verbessert wurde, wenn ein Laien-Ersthelfer durch Anleitung per Telefon gesteuert wurden. Im Kreis Gütersloh werden 44,7 Prozent der Wiederbelebungen von der Kreisleitstelle telefonisch angeleitet.
Deutschlandweit ist das der zweithöchste Wert von allen 120 Rettungsdiensten, die am Reanimationsregister teilnehmen. Im vergangenen Jahr konnte der Rettungsdienst im Kreis Gütersloh bei 143 Menschen nach Herz-Kreislauf-Stillstand wieder einen eigenen Herzschlag herbeiführen und sie lebend ins Krankenhaus bringen. Fast wöchentlich kann ein Mensch, der im Kreis Gütersloh einen Kreislaufstillstand erlitt, lebendig das Krankenhaus verlassen (48 in 2022). Für 39 von ihnen geschah das in einem guten Zustand. Mit 81,2 Prozent gegenüber dem Bundesdurchschnitt von 52,4 Prozent (Deutsches Reanimationsregister) spielt der Kreis Gütersloh hier in der Champions League. Die allermeisten Reanimationen finden im häuslichen Umfeld statt. Laut dem Deutschen Reanimationsregister: Bundesweit 76 Prozent, im Kreis Gütersloh 82 Prozent – viele per Telefon. Gütersloh gehört zu den Kreisen, die ihre Daten in das Register einspeisen.
Die Kreisleitstelle erkennt sehr häufig am Telefon einen Kreislaufstillstand
Jennifer Bodenburg ist als ausgebildete Berufsfeuerwehrfrau bei der Kreisleitstelle tätig. Die Disponentin hat ein paar Jahre ‘auf dem Wagen‘ hinter sich. Es ist diese Erfahrung, die die Expertin so wertvoll macht. Sie muss mit den Ohren sehen. Sie muss mit ihrer Erfahrung Bilder erzeugen, wie die Szene am anderen Ende der Telefonverbindung wohl aussieht. Gekonnt leitet sie Anrufer, die einen Notruf abgesetzt haben, per Telefon – auf laut gestellt - zur Wiederbelebung an. Jetzt zählt jede Sekunde, denn die Überlebenschancen der Person stehen auf dem Spiel. Bodenburg erinnert sich: „Die Anruferin berichtete, dass sie ihren bewusstlosen Mann, der nicht mehr atmete, nicht aus dem Sessel herausbekam.“ Als versierte Retterin ahnte sie: Wahrscheinlich ein stark beleibter Patient, nach vorne in sich zusammengesunken. „Wenn ich die Ehefrau als Ersthelferin nicht hätte anleiten können, den Kopf ihres Mannes nach hinten zu überstrecken, ich glaube, er wäre da sitzengeblieben“, mutmaßt Bodenburg. So wird die Disponentin durch die Helferin am Telefon zur Lebensretterin.
„Wir begleiten die Menschen vom ersten Klingeln bei der 112 bis zum Eintreffen des ersten Rettungsdienstfahrzeugs“, sagt Ansgar Kanther, Leiter der Leitstelle. Dabei sei die Leitstelle das erste Glied in der professionellen Rettungskette. „Wir lassen die Anrufer nicht allein“, fährt er fort, schon gar nicht mit der Reanimation. Wir fangen sehr oft an. Darunter befinden sich zwar auch solche Fälle, die rückblickend aussichtslos waren. Doch durch die hohe Rate erwischen wir regelmäßig auch Überlebende, die sonst keinen sehr frühen Rettungsversuch erhalten hätten.“
Pro 100.000 Einwohner wird im Kreis Gütersloh 99,7 Mal mit einer Reanimation begonnen, also tatsächlich 365-mal pro Jahr. Der Bundesdurchschnitt unter den Teilnehmenden am Reanimationsregister liegt bei 77,3 mal. Kanther: „635 mal trafen unsere Rettungsfachkräfte eine leblose Person an.“
Disponenten leiten besonders häufig telefonisch eine Wiederbelebung an – Platz 2 in Deutschland
Wenn Jennifer Bodenburg reanimiert, dann hat sie zuvor in einem strukturierten Notrufgespräch geklärt, worum es geht, wo der Notfall ist, wie die Rückrufnummer lautet. Sie schickt den Rettungswagen auf die Strecke und fragt gleichzeitig ab, ob der Patient bei Bewusstsein ist und ob er atmet. Häufig kommen jetzt bei den Anrufenden Sprachbarrieren zum Vorschein oder die Wogen der Emotionalität schlagen hoch. Nicht wach? Keine Atmung? Jennifer Bodenburg behält die Ruhe und leitet die Reanimation an. Telefonisch wird so das therapiefreie Intervall bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes verkürzt.
Zur Reanimation spielt ihr das System einen Ton ein, etwa 100 bis 120 Mal pro Minute. Dazu leuchtet ein roter Punkt auf dem Bildschirm auf. Die Notfallsanitäterin leitet gleichzeitig die helfende Person draußen am Telefon an, die Herzdruckmassage durchzuführen. Sie macht Mut. Sie motiviert. Sie unterstützt die helfende Person mit Durchhalteparolen. Sie lobt. Sie verfolgt auf ihrem Monitor, den Weg des Rettungswagens. „Jetzt sind es nur noch zwei Straßen, dann ist er bei Ihnen“, sagt sie. 9,8 Minuten dauert es im Schnitt, bis das Fahrzeug eintrifft, in 60 Prozent der Fälle in weniger als 8 Minuten. Das Martinshorn wird abgeschaltet. „Machen Sie weiter, bis die Retter klingeln, kommandiert die Disponentin. Erst zur Tür gehen, wenn es klingelt! Und dann sofort wieder weitermachen!“ Sekunden später darf die Helferin an die professionellen Retter übergeben. Die Disponentin vergewissert sich, dass der Rettungsdienst übernommen hat. Jennifer Bodenburg darf den Hörer auflegen.
Aber getan ist es damit noch nicht. „Situationen dieser Art können seelisch sehr belastend sein, nicht nur, wenn es um Leben und Tod geht“, sagt Kanther: dann ziehen wir einen Disponenten auch mal aus dem Dienst raus. Er selber erinnert sich daran, wie ein Mitarbeiter ein jugendliches Kind angeleitet hat, das den eigenen Vater reanimiert hat. Eine andere Art von Belastung sieht er besonders dann, wenn Krankenhäuser sich wegen Überlastung von der Aufnahme absagen oder wenn alle Rettungswagen und Notarztfahrzeuge auf der Straße seien und keiner mehr für den aktuellen Notfall frei ist. Auch das komme vor. Zudem seien die Anrufzahlen bei der Leitstelle deutlich gestiegen. Deshalb sind sie in der Leitstelle auch alle ein Freund davon, mit der Aufklärung über die Erreichbarkeit des ärztlichen Notdienstes (116117) und den Unterschied zum Notruf (112) nicht nachzulassen.
Besonderheit: Mobile Retter im Kreis Gütersloh
Mobile Retter erhöhen deutlich die Chancen, einen Kreislaufstillstand zu überleben und ohne bleibende Schäden aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Das ist inzwischen wissenschaftlich bewiesen. Geschulte, in der Wiederbelebung erfahrene Retter, die sich zufällig in der Nähe eines Notfallortes befinden, werden dabei durch die Leitstelle gleichzeitig mit dem Rettungsdienst alarmiert. Ihr Vorteil: Sie sind häufig schneller vor Ort. Es kann also sein, dass der Nachbar, der Krankenpfleger ist, über Smartphone alarmiert zum Notfallort kommt – weil er am nächsten dran ist. Gegebenenfalls in Turnhose und Badeschlappen – aber eben sehr schnell. So wird das therapiefreie Intervall vom Notruf bis zum Eintreffen des Einsatzfahrzeugs weiter verkürzt. Die Rettungskette wird weiter gestärkt. Dazu Dr. Bernd Strickmann, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst: „Wir kombinieren die Lebensrettungs-Systeme und potenzieren somit ihre Effekte.“
Im Kreis Gütersloh überleben überdurchschnittlich viele Menschen
einen Kreislaufstillstand in gutem Zustand.
Der Rettungsdienst des Kreises Gütersloh belegt Platz 1 beim Anteil der Laien-Reanimation – deutschlandweit. „Nirgendwo wird öfter vor Eintreffen des Rettungsdienstes mit der Reanimation begonnen“, als hier, berichtet Strickmann, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst für den Kreis Gütersloh. In 65,6 Prozent der Reanimationseinsätze des Rettungsdienstes haben Laien bereits Maßnahmen ergriffen. Perspektivisch wünscht sich Strickmann: „Reanimationsunterricht an Schulen, so wie es in mehreren Koalitionsverträgen der Landesregierungen zwar beschlossen, aber noch nicht umgesetzt wurde.“
Die Königsdisziplin? Wie viele Menschen können nach einem Reanimationsereignis lebend aus dem Krankenhaus entlassen werden? Und noch besser, wie viele sind darunter, die keine schweren Beeinträchtigungen haben? Strickmann kennt die Zahlen, denn jeder Einsatz wird ins Deutsche Reanimationsregister eingepflegt. Es gilt als das Tool für Qualität im Bereich Wiederbelebung. „13,2 Prozent aller Menschen, bei denen wir einen Wiederbelebungsversuch begonnen haben, können lebend aus dem Krankenhaus entlassen werden. 12,3 Prozent aller Menschen, bei denen wir einen Wiederbelebungsversuch begonnen haben, können ohne Hirnschaden entlassen werden. Der deutsche Durchschnitt liegt bei 7,1 Prozent. Das heißt, dass bei uns lediglich 0,9 Prozent in einem schlechten Zustand entlassen werden. Mich rühren die belastbaren Ergebnisse zutiefst“, sagt Strickmann, „denn die Zahlen sind Resultate der Arbeit von motivierten, erfahrenen und sehr gut ausgebildeten Mitarbeitenden im Rettungsdienst.“ Und dennoch, bei ihm gilt: Gut ist nicht gut genug. Evaluation, wissenschaftliche Qualitätskontrolle und Optimierung – daran arbeitet er täglich.